Lasst Europa den Karren ziehen – Klima und Energiepolitik in den Sondierungsgesprächen

Kommentar

Bei den Sondierungen über ein mögliches Jamaika-Bündnis verhakeln sich die Unterhändler/innen auf nationaler Ebene. Dabei muss die Energiepolitik europaweit gedacht werden.

Proteste vor dem Reichstagsgebäude in Berlin
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Die Energiewende muss europäisch gestaltet werden

Die Auseinandersetzungen der Jamaika-Unterhändler über die künftige Energie- und Klimapolitik erwecken den Eindruck, als sei dies eine rein nationale Angelegenheit. Ironischerweise sind die einzigen Verfechter der bestehenden Klimaziele für das Jahr 2020 ausgerechnet die Grünen, obgleich diese Zielverpflichtung gar nicht von ihnen stammt. Heute erscheint sie als der kleinste gemeinsame Nenner der sondierenden Parteien. Doch wenn es um die Umsetzung durch Kohleausstieg und nachhaltige Verkehrspolitik geht, ist Europa ein wichtiger Verbündeter, um zu einer Einigung zu kommen.

Denn deutsche Energie- und Klimapolitik kann und darf nur europäisch gedacht werden. 2007 hatte die damalige Große Koalition unter der Leitung von Kanzlerin Merkel und Umweltminister Gabriel beschlossen, die nationalen Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Dieses nationale Ziel floss dann anschließend in die Ausrichtung des europäischen Energie- und Klimapakets für das Jahr 2020 ein; 2009 wurde in Brüssel festgelegt, die Emissionen EU-weit um 20 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1990 zu verringern. Das nationale Ziel ist somit Bestandteil des übergreifendes EU-Ziels und verbindlich für alle Mitgliedstaaten. Auch wenn mancher in Berlin es nicht wahrhaben will: Das Festlegen von Emissionszielen ist kein rein nationales Projekt, sondern immer in Europa verankert.

Energiepolitik kann nicht nationale Politik sein

Auch die Energiepolitik ist keine rein deutsche Angelegenheit. Selbst wenn die Deutschen ihre Energiewende gern nur national denken, hat Deutschland sie nur mit Hilfe der vernetzten europäischen Strominfrastruktur in den vergangen Jahren umsetzen können. So wurde nicht nur oft überschüssiger norddeutscher Windstrom in die Stromnetze unserer Nachbarn eingespeist, sondern deren Netze auch dafür genutzt, deutschen Strom aus den Windkraftanlagen im Norden in die Industriestandorte im Süden Deutschlands zu leiten. Bei flauem Wind konnte Deutschland stets auf den Strom aus dem europäischen Ausland zugreifen und musste zuhause weniger in eigene Infrastruktur und Speicher investieren. Europa bietet daher einen unerlässlichen Beistand für die ambitionierte Weiterentwicklung der deutschen Energiewende.

Das gleiche gilt in anderen klima-relavanten Bereichen. Die Automobilpolitik – wo bisher auf nationaler Ebener nicht viel zur Verringerung der Treibhausgasemissionen passiert ist – wird oft von Brüssel vorangetrieben. Diese Woche hat die Europäische Kommission neue Verbrauchsgrenzwerte für Pkws und Lieferwagen in der EU vorgelegt. Bis 2030 bedeutet dies Einsparungen von Treibhausgasemissionen im europäischen Automobilsektor von 30 Prozent.

Die EU-Kommission treibt den Kohleaustieg voran

Auch im Hinblick auf einen Kohleausstieg setzt Europa wichtige Impulse. Zum ersten mal schlägt die Europäische Kommission vor, die Kohleverstromung in Europa zu reduzieren. So sollen nur noch die Kraftwerke Leistungszahlungen erhalten, wenn sie weniger als 550 Gramm CO2/kWh ausstoßen. Dieser Wert ist für konventionelle Kohlekraftwerke nur schwer zu erreichen und würde bedeuten - wenn dem Kommissionsvorschlag gefolgt wird - dass auch in Deutschland ein de facto-Kohleausstieg eingeleitet wird. Zudem will die Europäische Kommission durch Strukturfonds den Kohleausstieg in Europa aktiv fördern. Obwohl der CO2-Grenzwert für Kohlekraftwerke unter den EU-Mitgliedern hoch umstritten bleibt, bietet sich für Deutschland hier eine Möglichkeit, die Diskussion auf europäischer Ebene voranzutreiben und mit Staaten wie Frankreich und Großbritannien gleichzuziehen, die bereits den Kohleausstieg beschlossen haben. Deutschland braucht Europa für den Kohleausstieg; es wäre eine Illusion zu glauben, der Kohleausstieg und der damit einhergehende Strukturwandel in Deutschland gelänge ohne die inhaltliche und finanzielle Unterstützung aus Brüssel. 

Jamaika muss die Energiepolitik europäisch denken

Zur Zeit diskutiert die Europäische Union die Neuausrichtung ihrer Energie- und Klimapolitik bis 2030. Für Deutschland bedeutet dies: wir können dabei für eine europaweite Energiewende zu werben und helfen, den europäischen Rahmen zugunsten von mehr Klimafreundlichkeit zu gestalten. Natürlich wird das nicht einfach sein. Die derzeitigen Verhandlungen über die europaweiten Energie- und Klimaziele demonstrieren, welche unterschiedlichen energiepolitischen Prioritäten in Europa weiter bestehen. Deshalb muss Deutschland nicht nur in den Brüsseler Debatten mitwirken, sondern in den EU-Mitgliedsstaaten aktiv und zugleich so flexibel für eine Dekarbonisierung unserer Wirtschaftssysteme werben, dass sie bei unseren europäischen Nachbarn Unterstützung finden kann.

Eine echte europäische Energiewende, die der Verschränkung der nationalen Vorhaben im europäischen Rahmen endlich Rechnung trägt, böte  der EU eine einigende Wachstums- und Innovationsvision, die wichtige neue Investitionen in ein übergreifendes europäisches Projekt auslösen würde. Sie würde nicht nur eine stärkere Innovations- und Digitalisierungskultur in Gang setzen, sondern Europa auch weiterhin als globalen Vorreiter bei der Gestaltung nachhaltiger Energiepolitik auszeichnen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Deutschland und Europa in der Welt erhöhen.

In den Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen sollten die Jamaika-Unterhändler/innen diese Chance nutzen. Statt sich länger über deutsche Klima- und Energie zu verhakeln, sollten sie diese auf die europäische Ebene heben, wo sie hingehören. Brüssel könnte mithelfen, den Karren zu ziehen. Sie müssen nur aufspringen.